Biodiversität braucht Ungehorsam
Interview mit Vandana Shiva
Foto: Raimond Haindl
von Bernward Geier (Journalist und 18 Jahre Vorstand von IFOAM)
(zuerst erschienen in Werde – The Art of Green Living, Ausg. 4, 2020)
Die Prinzipien der Biodiversität sind für Vandana Shiva die Basis von wahrer Demokratie. Die charismatische indische Physikerin und Aktivistin ist höchst besorgt und fordert zu zivilem Ungehorsam auf.
Manchmal fühlt es sich an, als öffne die Welt ein Fenster, das den Blick in einen besonderen Raum, in eine andere Zeit ermöglicht. Wir treffen die Aktivistin Vandana Shiva zum Interview, an einem frühen kalten Wintermorgen auf Hofgut Habitzheim. Noch am gleichen Tag fliegt sie nach einer Vortragsreihe in Deutschland zurück in ihre Heimat.
Wie kam es, dass Sie zu einer Aktivistin für KleinbäuerInnen, Ökologie und biologischen Landbau wurden?
VS Als promovierte Physikerin begann ich 1984 meinen Fokus auf Landwirtschaft zu legen. Damals kam es zum Ausbruch großer Gewalt im Punjab, der Region in Indien, wo die zerstörerische sogenannte grüne Revolution, das heißt die agrochemische Landwirtschaft, zuerst eingeführt wurde. Dazu kam der fatale Brand in einer Agrochemie-Fabrik in Bhopal, bei dem Tausende starben.
Sie fordern zu zivilem Ungehorsam auf. Kommt dabei Ihre tiefe Inspiration von Mahatma Gandhi zum Ausdruck?
VS Das ist absolut richtig. Gandhi hat dafür den Begriff Satyagraha geprägt und belebt. In meinem Aktivistenleben ist Satyagraha der rote Faden. Dafür gilt es auch mit zivilem Ungehorsam gegen Unwahrheiten zu kämpfen. Lügen wie die, dass Agrarchemie die Welt ernähren kann oder dass Pestizide, also Agrargifte notwendig und sicher seien.
Was sind die aktuellen Satyagrahas?
VS In dieser Zeit der extremen Zerstörung der Artenvielfalt und der Klimakatastrophe brauchen wir eine alles verbindende „Satyagraha für das Leben“. Enorm wichtig ist da aktuell die Bewegung Fridays for Future. Die junge Generation praktiziert weltweit zivilen Ungehorsam mit einer Wirkungskraft, die wir uns kaum vorstellen konnten.
Sie werden als mutige Heldin verehrt. Wer sind Ihre eigenen Helden, über Gandhi hinaus?
VS Meine Eltern waren und werden immer heldenhafte Inspiration für mich sein. Eigentlich habe ich ganz viele Helden, und das auf der ganzen Welt, nämlich die Farmer und vor allem die Bäuerinnen. Sie geben mir viel Kraft, um mich meinen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.
In welchem Zusammenhang stehen Biodiversität und Landwirtschaft ?
VS Nachhaltige Landwirtschaft erhält nicht nur, sondern schafft Biodiversität, die uns eine vielfältige Ernährung ermöglicht. Unser Körper benötigt mehr als nur Kalorien. Wir brauchen auch Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine, also größtmögliche Vielfalt an Kultur- und auch Wildpflanzen, um Lebensmittel für eine gesunde Ernährung sicherzustellen. Ist die Vielfalt von Flora und Fauna in Balance, brauchen wir auch keine giftigen Pestizide. Dies schafft die Basis für gesunde und fruchtbare Böden, die keiner Kunstdünger aus Chemiefabriken bedürfen. Mit dem Einsatz von Agrarchemie und durch Monokulturen vernichten wir nicht nur die Pflanzenvielfalt, sondern zerstören auch die Lebensgrundlage der bestäubenden Insekten.
Vandana Shiva
ist promovierte Quantenphysikerin, setzt sich seit den 70er-Jahren als Aktivistin für Umwelt, Bürgerrechte und Ökofeminismus ein und kämpft dafür, die Welt vor dem Ökokollaps zu retten. Die Inderin gilt in den Medien als „die Stimme der Dritten Welt“, ist Autorin zahlreicher Bücher (aktuell „Eine andere Welt ist möglich“, Oekom Verlag) und hat in vielen Dokumentarfilmen mitgewirkt. Ihr Fokus liegt auf Biodiversität und Klimakatastrophe, Globalisierung und Patenten, Gentechnik und Saatgut sowie biologischer und regenerativer Landwirtschaft. 1982 gründete sie die Stiftung Navdanya (Neun Saaten) und wurde unter anderen mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
„Wir müssen kommunizieren, dass dieselben Pestizide, die Bienen und Schmetterlinge umbringen, auch Bauern und Bäuerinnen, Verbraucher und Verbraucherinnen krank machen.“
Vandana Shiva
Warum ist gesundes Saatgut so wichtig?
VS Saatgut ist Biodiversität. Es ist inzwischen aber leider eine Tatsache, dass die agrochemische Industrie mit ihrem Bestreben, die Landwirtschaft zu kontrollieren, die enorme Vielfalt unseres Saatguts zerstört. Zum Beispiel wurden aus der Wildpflanze Teosinte von den indigenen Völkern Lateinamerikas Tausende Maissorten gezüchtet. Aus einer indischen Urform des Reises entwickelten Bauern und Bäuerinnen über 200.000 Sorten. Saatgut ist auf Vielfalt ausgelegt, dies bildet die Grundlage unserer gesunden Ernährung.
Sehen Sie eine Verbindung zwischen Politik und Biodiversität?
VS Der indische Poet und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore hat geschrieben, dass die Wälder Indiens Lehrer unserer Nation sind, denn von den Wäldern und deren Biodiversität können wir die demokratischen Prinzipien lernen. Das führte dazu, dass Indien ein Jahrhundert lang eine Gesellschaft der „Baumdemokratie“ war. In einem Wald leben die kleinsten Lebewesen und die höchsten Bäume, die größten Säugetiere und die kleinsten Insekten wie gleichwertige Bürger. Die Prinzipien der Biodiversität sind für mich die Basis wahrer Demokratie. Heute droht diese zu kollabieren. Immer mehr Menschen werden, auch in Europa, in ihren Freiheits- und auch Existenzrechten beschnitten, die beide zur demokratischen Vielfalt gehören.
Die Corona-Krise zeigt enorme wirtschaftliche Auswirkungen, doch Wirtschaft und Politik halten an der Rückkehr zu bewährten Modellen fest. Macht das Sinn?
VS Niemand kann der Corona-Pandemie ausweichen, und es kann kein Zurück zu der Zeit davor geben. Die wirkliche Krise kommt erst noch, denn das aktuelle Wirtschaftsmodell verursacht immer mehr und größere Probleme. Seine Zeit ist abgelaufen, und es ist sinnlos, immense Summen an Steuergeldern und Schulden für seine Rettung einzusetzen. Eine Milliarde Menschen hungert, und zwei Milliarden leiden an Krankheiten, bedingt durch ihre Ernährungsgewohnheiten und die schlechte Qualität ihrer Lebensmittel. Wir brauchen ein Wirtschaftsmodell, das sich an den Grenzen der Leistungsfähigkeit der Erde und an Gerechtigkeit und Gemeinwohl orientiert.
Welche weiteren Krisen gilt es zu bewältigen?
VS Wir sind mit drei weiteren großen Krisen konfrontiert: dem Klimachaos mit peak oil, dem atemberaubenden Biodiversitätsverlust und der Nahrungskrise, die alle verbunden sind. Die zentrale Botschaft „soil not oil“ (Boden statt Öl) zeigt den entscheidenden Weg, diese Krisen zu lösen. Wir müssen eine Landwirtschaft betreiben, die mit gesunder Erde arbeitet.
Dient das „Auslaufmodell“ Landwirtschaft als Retter für diese Krisen ?
VS Die Lösungen liegen in der Tat nicht in der Wall Street oder den Konzernzentralen, sondern vor allem auf dem Land. Die Landwirtschaft ist ein zukunftsweisendes Wirtschaftsmodell und ein zentraler Lösungsfaktor, aber nur wenn sie nachhaltig und ökologisch betrieben wird. Es werden wieder mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten müssen, auch in den reichen Ländern. Wir müs-sen zurück zur Wirtschaft der realen Welt und sollten neue Modelle gegenseitiger Unterstützung aufbauen. Wenn wir uns jetzt nicht vorbereiten, werden wir nicht nur heftige Konflikte haben, sondern einen Kampf aller gegen alle.
Also liegt eine Lösung in den Händen von Bauern und Bäuerinnen?
VS Ich sehe meine Aufgabe darin, die harte Arbeit der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen zu würdigen. Tun wir das nicht, wird niemand mehr diese Arbeit machen wollen. Der weltweite Trend und die Landflucht belegen das. Doch wer soll in Zukunft unsere Lebensmittel erzeugen? Die industrielle Landwirtschaft vernichtet Nahrung, wir verschwenden bis zu neunzig Prozent der erhältlichen Kalorien, indem wir Getreide an Vieh verfüttern. Es gibt keine nachhaltige Landwirtschaft ohne die Kombination von Tieren, Ackerbau und Bäumen. Wir haben die Systeme auseinandergerissen, die Landwirtschaft ganz auf Ackerbau ausgerichtet und Tiere in riesige Gefängnisse gesperrt. In einer ökologischen Landwirtschaft ergänzen Tiere die Menschen, sie konkurrieren nicht mit ihnen.
Und was bleibt die Aufgabe der Politik?
VS Das Wichtigste scheint mir, wirkliche Demokratie zurückzufordern, denn sie ist von der Wirtschaft korrumpiert. In meinem Buch „Erd-Demokratie“ habe ich dafür plädiert, dass wir Demokratie gleichzeitig in lokale Zusammenhänge einbetten und global machen sollen. Wir brauchen eine Demokratie der Erde: Die Politik muss viel aktiver werden im Hinblick auf Veränderung und Verbesserung der lokalen und globalen Bedingungen und in Bezug auf Ganzheitlichkeit.
Warum ist die Demokratie weltweit in Gefahr?
VS Vor allem weil sich die ein Prozent Superreichen der Bewohner der Erde mit ihren multinationalen Unternehmen unser Wirtschaftssystem angeeignet haben. Die demokratischen Elemente des Wirtschaftens werden zerstört, und es gibt dadurch jetzt schon eine gefährliche Polarisierung der Gesellschaft
Was ist das Wichtigste, um notwendige Veränderungen zu erreichen?
VS Ein neues Denken. Das Denken verändert sich durch Bildung. Die beste Art von Bildung ist die praktische Erfahrung. Wenn Sie Ihre Hände gebrauchen und Kontakt mit dem Erdboden und zu Tieren haben, wird das Gehirn auf eine bestimmte Weise aktiviert. Ich empfehle Gartenarbeit als Schulfach für alle Kinder. Lassen wir sie ihren eigenen Weg finden, aber wir sollten ihnen wenigstens Gärten geben.
Ihr Ziel ist, bis 2050 die Welt von giftigen Pestiziden zu befreien. Ein verrückter Traum?
VS Die Idee, mit einer klaren Zeitschiene für eine pestizidfreie Welt zu kämpfen, wurde 2017 geboren. Wir hatten ein „Bhoomi“-Festival für Mutter Erde organisiert. Es kamen die Gemeinschaften unserer Navdanya-Bewegung der ganzen Himalaja-Region zusammen. Auch Ministerpräsident Chamling, der den indischen Bundesstaat Sikkim auf „100 Prozent Bio“ umgestellt hat, sowie der Bürgermeister der Südtiroler Gemeinde Mals, der erfolgreich per Referendum Pestizide aus seiner Apfelanbauregion verbannte. Das klingt nicht nach einem verrückten Traum.
Wie kommen wir voran?
VS Sehr gut. In den letzten Jahren hat sich der biologische Landbau weltweit, aber vor allem in Indien rasant ausgebreitet. Zurzeit stellen Millionen von Bauern und Bäuerinnen dem Beispiel Sikkim folgend auf Biolandbau um.
Allein in meinem Heimatstaat Uttarakhand alle 1,7 Millionen Farmer! Kirgistan und ganz aktuell die Mongolei haben sich ebenfalls ein 100-Prozent-Ziel gesetzt. Angesichts der dramatischen und rasanten Entwicklungen hin zu den wissenschaftlich berechneten Kipppunkten bei der Klima- und der Biodiversitätskatastrophe in einem Jahrzehnt haben wir inzwischen die Zielsetzung auf 2030 verkürzt.
Was muss die Gesellschaft dafür tun?
VS Wir müssen kommunizieren, dass dieselben Pestizidgifte, die Bienen und Schmetterlinge umbringen, auch Bauern und Bäuerinnen, Verbraucher und Verbraucherinnen krank machen. Wir müssen damit beginnen, die Kosten für diese Krankheiten für die Gesellschaft und auch die einzelnen Menschen zu kalkulieren und zu internalisieren. Dann wird ganz schnell klar, dass wir uns eine chemische Landwirtschaft und falsche Ernährung nicht mehr leisten und erlauben können.
Und was können wir selbst tun?
VS Unsere Weltgemeinschaft ist die Summe aller Individuen. Wenn jedes Individuum sich ändert, ist die Gesellschaft verändert. Alle Paradigmenwechsel beginnen ganz klein, bevor sie zu einer großen Welle werden. Das gilt auch für die Biodiversität, den Klimaschutz und vor allem die so dringend notwendige radikale Agrarwende.
BERNWARD GEIER Der Netzwerker und Agronom begleitete die Deutschlandtour der Aktivistin im Winter 2020. Für Werde ermöglichte er gar einen Termin am Tag der Rückreise.
RAMON HAINDL Zu Sonnenaufgang kam der Fotograf bei eisiger Kälte Mitte Januar in den Genuss einer großartigen Begegnung. Und setzte sie in berührende Aufnahmen um.
Bernward Geier
war 18 Jahre lang Direktor des Welt-Bio-Verbands IFOAM – Organics International. Er ist seit 35 Jahren aktiv im Bereich Landwirtschafts- und Umweltpolitik unterwegs, Mitglied bei Bündnis 90 / Die Grünen und ein hervorragender Netzwerker.
Auf internationaler Bühne hat er mit UNO, FAO, UNEP, WTO und OECD zusammengearbeitet. In der Mediathek der Deutschen Welle ist die Dokumentation „Sikkim – Die Öko-Rebellen vom Himalaya“ weiterhin verfügbar: (https://www.dw.com/de/die-%C3%B6ko-rebellen-vom-himalaya/av-49661118) hat Bernward Geier Vor und Hinter der Kamera mitgewirkt. Gezeigt wird der erste 100% Bio Staat der Welt, der die Transformation zu Organic Farming geschafft hat, die Erträge gesteigert und zum erfolgreichen Modell für den Planeten geworden ist.