Das Buch über Klimakleber
Klimakleber! Bundeskanzler Olaf Scholz findet sie nur bekloppt. Die Volksseele kocht, wenn sie nur “Letzte Generation” (=LG) hört. Sie wird befeuert durch die Medien. Viele finden die Aktionen ätzend. Verständlich, wenn man in den Staus festsitzt. Einige betroffene AutofahrerInnen packen daher zuweilen erschreckend hart zu. Sie reagieren mit wüsten Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten. Viele Medien und Politiker reagieren wie zu erwarten: Die Blockaden erregen die Gemüter, entsprechend folgen Versuche, diese meist jungen Menschen zu kriminalisieren. Dabei spiegelt das nur zu deutlich, dass die Bundesregierung bei der Klimakrise keinen Plan hat und dabei auch noch seine Rechtsstaatlichkeit untergräbt und statt ins Handeln zu kommen. Was ist da los?
Ja, liebe Leserinnen und Leser, wir greifen dieses Thema hier schon wieder auf! Denn der Aktionismus der Regierenden nimmt von Tag zu Tag absurdere Züge an. Beim vorherigen Beitrag ging es uns darum, dass schon seit über 50 Jahren WissenschaftlerInnen, Menschen unterschiedlicher Provenienz (bis in die Eliten der Weltgesellschaft) vor der Klimakrise Mantra-artig gewarnt haben, ohne dass präventiv gehandelt wurde. In diesem Beitrag geht es um das im April neu erschienene Buch “Die letzte Generation – das sind wir alle”. Es stellt uns die in der Mehrzahl jungen Menschen hinter der LG aus der Innensicht vor. Bei der Lektüre kann sich das Gefühl einschleichen, wer eigentlich “bekloppter” ist? Diejenigen, die sich für das Klima zum Wohle der Menschen und des Planeten einsetzen? Oder diejenigen, die das Thema jahrzehntelang ausgesessen haben und die kassandrischen Klimakleber jetzt mit hartem Kurs kriminalisieren?
Der staatliche Kipppunkt wurde erreicht
Auf Druck von Medien und Öffentlichkeit war nun auch beim Rechtsstaat der Siedepunkt erreicht! Er hat stark gegen die LG durchgegriffen und Razzien in sieben Bundesländern durchführen lassen. Ihre Wohnungen und Buchhaltungen wurden durchsucht, die Website der Organisation vorübergehend gesperrt. Gegen sieben Personen im Alter zwischen 22 und 40 Jahren wird ermittelt. Verdacht auf Bildung einer kriminellen oder gar terroristischen Vereinigung. Was sind das für junge Menschen (und teilweise auch ältere), die ihre Ausbildung, ihr bürgerliches Leben hintenanstellen, um Politik und Gesellschaft wach zu rütteln, um endlich ins Handeln zu kommen? Ist das kriminell? Oder gar terroristisch? Schließlich geht es um nichts weniger als eine “unaufschiebbare Klimakatastrophe” mit Wasserknappheit, Überschwemmungen, Überhitzung, Hungersnöten, Migration und Kriegen, um Ressourcen, von denen immer mehr Menschen betroffen sein werden. Das hat in weiten Kreisen, auch international Unverständnis ausgelöst. Der harte Kurs der deutschen Behörden wird auch von der UNO ins Visier genommen. Stephane Dujarric, Sprecher vonGeneralsekretär Antonio Guterres, hat das Vorgehen stark kritisiert: “Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je.” Protestierende hätten in „entscheidenden Momenten maßgeblich dazu beigetragen, Regierungen und Wirtschaftsführer dazu zu bewegen, viel mehr zu tun. Ohne sie wären die weltweiten Klimaziele bereits außer Reichweite,” so Dujarric weiter. (Quelle: FAZ nach Razzia der KlimaaktivistInnen)
Wer ist hier bekloppter?
Das Letzte, was die LG ist, ist eine kriminelle Vereinigung. Natürlich stehen die Klimaaktivisten nicht über dem Gesetz. Sie sind ja sogar bereit, für ihre Aktionen Gefängnisstrafen in Kauf zu nehmen. Für ihre Straßenblockaden werden sie zunehmend zur Kasse gebeten. Die Obrigkeit reagiert mit Härte gegen sie, aber klimapolitisch klebt sie selbst immer noch am Status Quo und kommt nicht voran. Wer oder was ist hier bekloppt, Herr Bundeskanzler?
“Ich weiß, dass die Menschen überall ängstlich und wütend sind.
António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Naationen, anlässlich der Pressekonferenz
Ich bin es auch. Jetzt ist es an der Zeit, der Wut Taten folgen zu lassen.
Jeder Bruchteil eines Grads zählt. Jede Stimme kann einen Unterschied machen.
Und jede Sekunde zählt.”
zur Vorstellung des IPCC-Berichts, Genf, 28. Februar 2022.
Die Letzte Generation – das sind wir alle, 2023, (C) bene! Verlag
Vermintes Gelände für Klimakleber
Uns ist schon klar: Wer mitreden will und das Thema “Klimakleber” moderat angehen möchte, begibt sich auf vermintes Gelände. Als Eltern und Großeltern, die #Wurstend wegen der drohenden Klimakrise ans Laufen gebracht haben, beschäftigen auch wir uns damit, wie unsere Gesellschaft ins Handeln kommt. Schließlich wollen wir, dass wir die Welt unseren nachkommenden Generationen lebenswert hinterlassen. Keinesfalls wollen wir uns mit einer „nach-uns-die Sintflut-Mentalität” verabschieden. (Auch, wenn mensch das uns Boomern gerne absprechen möchte. Auch so ein Ding!) Als Schreibein dieses Artikels gebe ich zu, dass ich die Aktionen der LG zwar nicht sehr geschickt finde, aber ihre Mission nachvollziehen, ja, durchaus verstehen kann. Vor allem seitdem ich einige VertreterInnen von ihnen im Domforum am 13. April 2023 kennenlernen und mit ihnen sprechen konnte. Das was anlässlich der Buchpräsentation des Bene!Verlags: „Die letzte Generation – das sind wir alle”. Es trägt dem warnenden Untertitel: “Wenn die Welt in Flammen steht, hilft es nicht, den Feueralarm auszustellen“. Darin werden Lina Eichler, Henning Jeschke und Jörg Alt von der Autorin Angela Krumpen als ihrem Ghost vorgestellt. Das Quartett stand in Köln direkt im Schatten des Doms Rede und Antwort. Durch die Präsentation ihres Buches konnte das reichlich erschienene, altersgemischte Publikum ein paar der KlimakleberInnen kennenlernen und Einsichten in ihre Beweggründe bekommen.
Panikmache oder Thrill?
Wer sind diese jungen Menschen, die von braven Jugendlichen zu den zivil Ungehorsamen mutieren? Alles nur ein neuer Thrill gelangweilter Wohlstandskids? Die Abitur, Studium und bürgerliche Perspektive oder Karrieren aufgeben, um sich ganz dem Kampf für eine Klimawende zu widmen? Das ist zu einfach gedacht. Am Ende müssen wir fragen: Kann man die jungen Menschen, die nicht erhört, sondern vielfach verhöhnt werden, nicht auch verstehen, dass sie zu drastischen Mitteln greifen müssen? Sie wollen in einen ehrlichen Dialog mit den PolitikerInnen auf Augenhöhe. Diese schauen sich das Ganze vom hohen Rösslein an. Nun haben wir das Buch. Auch eine Mutter einer Klimaaktivistin der LG im Publikum kam zu Wort und schilderte berührend ihre Zerrissenheit zwischen Bangen und Unterstützen der jungen Menschen, die sich schonungslos mit sich selbst zu den TreiberInnen der Klimakatastrophe erklärt haben. Die Uhr tickt, was die die knappen Handlungsspielräume angeht, um noch etwas verändern oder Entwicklungen aufhalten zu können. Unser gesamtes globales Wirtschaftssystem müsse neu gedacht werden. Denn die Klimakatastrophe geht die globale Weltbevölkerung, jeden und jede einzelne an: Immer neue Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände, Wassermangel, Kriege… werden in unsere Nachrichtenstreams gepusht. Wir können unsere Kinder mit diesem Desaster allein lassen.
Das Buch, das geschrieben werden musste
Die Tönisvorster Radio-Journalistin und Autorin Angela Krumpen hat drei Mitglieder der LG mit unterschiedlichen Biografien zu Wort kommen lassen. Da ist die 21-jährige Lina Eichler aus Dülmen, die als Tierschutzaktivistin begann und kurz vor ihrem Abitur die Schule schmiss, um sich ganz dem Klimakampf zu widmen. Oder Henning Jeschke aus Greifswald. Der 23-Jährige ließ sich von Greta Thunberg inspirieren und begann zunächst mit Aktionen bei Extinction Rebellion. Er gab ebenfalls sein Studium der Politikwissenschaften auf und macht nun selbst Politik.
Konsequent bis in den Hungerstreik
Beide machten die Erfahrung, dass Demonstrationen und selbst subversive Aktionen wie das Abdrehen von Pipeline-Ventilen kaum wahrgenommen werden. Ihr Protest fand kaum Niederschlag in den Medien. Jeschke, Mitinitiator der Letzten Generation, und Eichler sind daher weiter gegangen als sich anzukleben und Straßen zu blockieren: Sie traten im Bundestagswahlkampf 2021 in den Hungerstreik. Jeschke verweigerte zum Schluss des wochenlangen Hungerstreiks sogar das Trinken. Und alles nur, um ein Gespräch mit den Kanzlerkandidaten über die Klimakrise zu erzwingen. Olaf Scholz sagte im letzten Moment ein Gespräch zu, beide Klimaaktivisten brachen ihren Hungerstreik dafür ab und mussten hinterher ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das Gespräch mit Olaf Scholz, zu dem Zeitpunkt noch kein Kanzler, war aus Sicht der Klimaaktivisten eine Enttäuschung, weil es nur zu deutlich zeigte, dass die Politik die Klimakatastrophe weitgehend ignoriert. Die erneute abfällige Äußerung des Bundeskanzlers, der die Klebeaktionen als “völlig bekloppt” abgekanzelt hat, ließ (nicht nur) die jungen Menschen rund um die LG “fassungslos” zurück. Es sei schließlich die Schuld des Kanzlers, dass Menschen auf Deutschlands Straßen versuchen müssten, friedlich ihre Grundrechte zu erstreiten: “Die Ursache unseres Protests liegt in der verantwortungslosen Befeuerung des gesellschaftlichen Zusammenbruchs durch die Regierung Scholz.” (Quelle: Süddeutsche Zeitung, 23. Mai 2023)
Jesuitenpater der Boomer-Gen klebt mit
Auf dem Podium in Köln und in dem Buch gibt es aber noch einen dritten Protagonisten: Jörg Alt aus Nürnberg. Angela Krumpen hat den Jesuiten-Pater aufgenommen, weil damit bewiesen wird, dass Klimaaktivisten nicht unbedingt immer nur die Jungen sind, sondern dass durchaus auch Boomer in ihren Reihen zu finden sind. Alt ist 62 Jahre jung, hat 1997 zusammen mit der internationalen Hilfsorganisation Medico für die Kampagne gegen Landminen den Friedensnobelpreis erhalten. Auch er war anfangs skeptisch, was die Aktionen der LG betraf. Dann erkannte er: „Diese jungen Leute sind ja jesuitischer als wir.“ So begann er zu containern, rettete Lebensmittel aus dem Abfall. Zum Schluss blockierte er in Nürnberg zusammen mit den AktivistInnen der LG eine Hauptverkehrsstraße.
“Wir sind die erste Generation, die den Klimawandel zu spüren bekommt,
Barack Obama, Posting auf seinem Twitter-Account, 23. September 2014
aber wir sind die letzte, die etwas dagegen tun kann.”
„Warum bleiben alle so ruhig?“
Natürlich merken die Aktivisten auch, dass sich viele Politiker, auch der Grünen oder Sprecher von FFF – zunehmend von ihnen distanzieren. Man teilt zwar das Ziel, aber die Mittel sind umstritten. Fridays For Future wirft der Letzten Generation vor, die Gesellschaft zu spalten und dem Kampf fürs Klima zu schaden. Natürlich gibt es auch so etwas wie eine gewisse Ratlosigkeit. Die drei ProtagonistInnen des Buches fragen sich jedenfalls, warum alle im Angesicht der sich ankündigenden Katastrophe so ruhig blieben: „Milliarden von Menschen werden sterben, wenn wir in eine 3-Grad-Welt kommen, so lautet die Prognose vieler Forscher:innen.“ Auch wir bei Wurstend haben ja die Erfahrung gemacht, dass Reaktionen auf unsere vielfältigen Informationen zumeist ausbleiben.
„Längst spüren viele:
Klappentext des Buches
Wir müssen jetzt sofort etwas dagegen tun.
Aber warum sind dann alle so ruhig?“
Zu guter letzt
Bleiben wir unruhig und bewegen etwas. Die Lektüre des Buches lässt uns die Aktivisten ein Stück weit mehr verstehen. Und wir stimmen Ghostwriterin Angela Krumpen zu:
Die letzte Generation – das sind wir alle. Lasst uns noch die Kurve kriegen, bevor es definitiv zu spät ist.
Infos
Lina Eichler, Hennig Jeschke, Jörg Alt: Die letzte Generation – das sind wir alle. München, März 2023,
192 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-96340-263-0