Critical Mass – mit dem Rad mal die Stadt aufwecken
Es gibt Demonstrationsformen, die kommen ohne Polizeiaufgebote aus und ohne Straßensperrungen. Denkt nur an einen Autokorso zur Hochzeit. Aber auch mit dem Rad geht das. Das nennt sich fahren im Verbund.
Neulich habe ich mit dem Rad einen Autokorso angeführt. Es wurde gehupt und geschrien. Die Stimmung war großartig!
Netzfund
Critical Mass fahren im geschlossenen Verband
Als Chemikerin denke ich bei critical mass (kritischer Masse) natürlich sofort an eine nukleare Kettenreaktion. Diese ist hier natürlich nicht gemeint, sondern die Anzahl RadlerInnen, die der Gesetzgeber festgelegt hat, damit ein sogenannter Verbund entsteht. Die Zahl ist 15.
Mehr als 15 Radfahrende können nach §27 StVO einen „geschlossenen Verband“ bilden, welcher allerdings für andere Verkehrsteilnehmende deutlich als solcher erkennbar sein muss. Für diesen Verband gelten sinngemäß die Verkehrsregeln eines einzelnen Fahrzeugs und er hat z.B. – als wäre er etwa ein Sattelzug– in einem Zug über eine Kreuzung mit Ampel zu fahren, selbst wenn diese zwischenzeitlich auf Rot umschaltet. Dies wurde 1989 durch ein Urteil des Landgerichts Verden bestätigt. Für Teile eines „geschlossenen Verbands“ gilt zudem auch nicht eine ausnahmsweise angeordnete Radwegbenutzungspflicht nach §2 Abs.4 StVO: Sie dürfen z.B. auch auf der Fahrbahn zu zweit nebeneinander fahren. Sagt wikipedia.
Dabei geht man davon aus, dass sich dieser Verband „zufällig“ triff. Da das natürlich genauso zufällig ist wie eine flashmob Veranstaltung. Critical mass Events gibt es bestimmte Daten. Diese sind für jede Stadt andere.
Warum braucht es eine critical mass Veranstaltung überhaupt?
Angeblich ist diese Form des Pulkfahrens 1992 in San Francisco entstanden und sollte – ganz harmlos – auf das Rad als vollwertiges Vehikel im Individualverkehr aufmerksam machen.
Doch mit den Jahren wurde dieses Zusammenfahren immer organisierter, so dass man heute eigentlich schon von einer Bewegung sprechen kann. Diese Bewegung halte ich heute für absolut nötig, da es unsere PolitikerInnen nicht schaffen, die selbst gesteckten Klimaziele umzusetzen. Insofern ist critical mass auch eine Forderung für Tempo 30 in den Städten und eine funktionierende Radinfrastruktur.
Ihr ahnt es schon – das bedeutet Stress.
Vorfahrt fürs Rad
Wie immer, wenn AutofahrerInnen warten müssen oder sich in ihren Rechten verletzt wähnen, kocht die Volksseele. Ihr braucht ja nur an die Straßenblockaden in Berlin durch die Letzte Generation zu denken. So ist es auch bei critical mass Events, die AutofahrerInnen rasten aus. Die AktivistInnen berichten mir von FahrerInnen, die die Gegenfahrbahn nutzten, um an den RadlerInnen vorbei zu kommen, und sich und andere dabei gefährdeten. Oder solche, die über den Grünstreifen donnerten. Wenn der Verbund mehr als 100 TeilnehmerInnen hat, muss er theoretisch von der Polizei genehmigt sein. Aber wer weiß schon vorher, wieviele kommen werden?
So ist bei meinem ersten Versuch, mitzufahren, das Event auch nicht zu Stande gekommen. Wir waren nur sieben. Dabei war sogar einer der wichtigen Aktivisten aus Bochum extra mit dem Zug angereist.

Beim ersten critical mass Event in Mülheim waren noch 140 TeilnehmerInnen dabei, doch Corona und schlechtes Wetter haben in den vergangenen Jahren die Teilnehmerzahlen sinken lassen.

Einfach entspannt fahren
Obwohl critical mass ein Protest-Event ist, ist das eigentliche Ziel einfach: mal entspannt durch die Stadt zu fahren. Einer setzt sich an die Spitze, die anderen radeln hinterher, zu zweit oder mehreren nebeneinander, das ist im Verbund ausdrücklich erlaubt. Meist hat jemand nice Musik dabei, einige sind mit ausgefallenen Bikes unterwegs und nette Gesellschaft ist selbstverständlich. Und das kann man planen. Überwiegend finden die Events am Freitag statt, in Mülheim aber Montags. Während in Städten wie Stuttgart mehr als 500 Leute radeln, kommen wir in Mülheim gerade mal über die Grenze der kritischen Masse.
Das ist kein Wunder, denn Mülheim ist DIE Autostadt. Während in Deutschland 2021 im Schnitt 584 Autos / 1000 EinwohnerInnen zugelassen sind, liegt Mülheim bei 611. Damit liegt Mülheim auch in NRW vorne. Dazu kommt, dass die PKW Dichte in den „reichen“ Stadtteilen besonders hoch ist. Speldorf 757, Menden-Holthausen 727 und Saarn 692. (Daten aus der Haushaltsbefragung der Stadt Mülheim adR )
Krass: Klingelnd durch den Kreisverkehr
Natürlich erregt so ein Verband bunt zusammen gewürfelter RadlerInnen die Aufmerksamkeit der PassantInnen. Viele sind freundlich, viele interessiert. Da der Anblick geballter RadlerInnen manchmal auch Aggression auslösen kann, sind bei der critical mass auch immer erfahrene RadlerInnen dabei, die Einmündungen absichern oder sicherstellen, dass beim Spurwechsel keine AutofahrerInnen in den Verbund fahren. Welche Techniken dafür angewendet werden, steht in der Critical Maps App, bei der man die Route der TeilnehmerInnen verfolgen kann. Vorausgesetzt sie haben sie aktiviert. Das ist wichtig, denn critical mass Events sind keine Demonstrationen, die vorher angemeldet werden müssen und dann auch von der Polizei abgesichert werden.
Da das Ziel der Aktion ist, einfach zusammen zu fahren, ist das Radeln im Verbund tatsächlich eine angenehme Erfahrung mit netten Gesprächen und Spaß. In den Kreisverkehren werden demonstrativ (schließlich ist es ja auch eine Demonstration) mehrere Runden mit ordentlich Klingelrabatz gedreht. Das ist geiler Spaß.
Doch was bleibt am Ende einer critical mass Veranstaltung? Bei mir definitiv die Erfahrung, dass ich beim radeln endlich mal entspannen konnte und damit die erschreckende Erkenntnis, wie gefährlich mein Fahrradalltag ist. Und das gibt mir gerade viel zu denken.
23/05/2023 @ 17:11
Hallo Ghita, kann auch nur jede*n ermutigen, mal an einem solchen Event teilzunehmen. Du bekommst eine neue Sensorik dafür, was im Straßenverkehr möglich ist. Plus die Steigerung deines Selbstverständnisses durch eine kollektive Aktion.
24/05/2023 @ 08:55
Hallo Udo,
vielen Dank für Deinen konstruktiven Kommentar. Wir wünschen uns gerne mehr LeserInnen, die aktiv dabei sind. Dieses Feedback finden wir enorm wichtig und wissen es sehr zu schätzen.
Merci dafür und bis zur nächsten critical mass – spätestens 😉
LG Ghita