Im Hotspot der Klimakrise
Nikolaj Schultz „Landkrank“, 2024,
mit einem Vorwort von Luisa Neubauer. Edition Suhrkamp
Der 33-jährige Soziologe Nikolaj Schultz setzt sich in seinem Buch „Landkrank“ mit der Klimakrise zwischen Fiktion und Fakten auseinander. Mit frischer Schreibe, ohne langweiligen Moralismus. „Ethnografiktiv“ nennt Nikolaj seinen Essay. Seine Überzeugung: Das Klimakrisen-Boot, in dem wir alle sitzen, bekommen wir nur aus dem Schlamassel mit Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn.
Sind wir alle “landkrank”?
Die Kollegin sagt, als ich ihr von dem Buch erzähle: „Landkrank? Da musst du als Erstes schreiben, was das bedeutet.“ Okay. Ich stelle mir vor, wie ich Nikolaj Schultz zum Interview einlade. Er kommt mir sogar fiktiv entgegen, mit seinem charakteristischen Wuschelkopf, noch zerzaust von seiner Segeltour in Porquerolles und erklärt:
„Landkrank ist eine Metapher, die ich vom Segeln gestohlen habe. Normalerweise versteht man darunter das Gefühl, das ein Segler hat, nachdem er das Boot verlässt und an Land kommt. Er fühlt dann, die Erde würde unter ihm beben. Ich dachte, das ist zu gut, um es nicht als Konzept zu verwenden. Ich nutze es, um die doppelte Erschütterung der Erde und der Menschen zur gleichen Zeit zu beschreiben. Beide leiden unter dem Horizontverlust, der mit dem Verständnis davon einhergeht, dass wir als Menschen Schritt für Schritt und Tag für Tag eine Spezies geworden sind, die ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört.“
Nikolaj Schultz im Philomag Interview
Aha, das hätten wir schon mal. „Ja, und worum geht’s in dem Buch?“, bohrt die Kollegin weiter. Also: “Landkrank” ist ein gut lesbares Essay von 99 Seiten. Es ist eine Kopf-Reise-, Insel- und Segelgeschichte. Aber auch eine Erkenntnisgeschichte. Der Klimakrise auf der Spur. Erzählt wird aus der Perspektive eines Ich-Erzählers (offenbar eng mit Nikolaj verwandt). Dabei gibt er Antworten, die nicht immer tröstlich sind. Immerhin schildert er seine persönlichen Einsichten in einem Ton, der ihn zur Stimme seiner Generation machen könnte. Ça va bien?
Eintauchen in die Story
Alles beginnt in einem verschwitzten, billigen T-Shirt. Die Sommernacht unter den Dächern von Paris ist drückend. Der Ich-Erzähler kann nicht schlafen. Er wird von dem Gedanken heimgesucht: „Das Anthropozän ist offenbar kein guter Ort zum Schlafen.“ (18). Dies ist der Beginn seiner Reise in sein Inneres. Das Anschalten des Ventilators ist gleichzeitig sein persönlicher Klick-Moment. Auf der Suche nach Antworten, der Hitze zu entgehen, kommt er über die Klimakrise zum Grübeln. (“Genau wie von Luisa Neubauer im Vorwort beschrieben”, sagt die Kollegin. „Das musste erklären!“). Sofort rotieren die Gedanken des Ich-Erzählers. Alles beginnt sich um das eigene existenzielle Unbehagen in der ökologischen Krise zu drehen. Um den eigenen Fußabdruck. Um Kafka, Kierkegaard, Boomer-Schuld und Tourismusschwemme. Wroooooooommmmmmm. Der Ich-Erzähler fühlt sich wie auf schwankenden Planken: „Mein In-der-Welt-Sein vergrößert die Verstrickung. Jeden Tag wird mir klar: DAS Problem bin ICH.“ Er beschließt, der Hitze von Paris zu entfliehen. Auf der Segeljacht von Freunden will er auf der Mittelmeer-Insel Porquerolles seine Nachtgedanken loswerden. Im gehobenen Inselparadies will er seinen Kopf von der Klimakrise befreien. Soll sie doch auf dem Festland zurückbleiben! Mit frischem Wind die Schuldgefühle zerstreuen.
Landkrank – Touristendystopie statt Inselutopie
Natürlich muss es anders kommen. Die Sorglosigkeit geht perdu. Denn eine alte Frau, eine “Eingeborene der Insel” konfrontiert den Ich-Erzähler beim Ankommen Strand direkt mit seinem Dilemma, dem er zu entkommen hoffte. Nun erwischt sie ihn von der anderen Seite: „Ich bin hier geboren, ich bin Porquerollaise, aber ich weiß nicht mehr, wo ich hingehen könnte.“ Dem Ich-Erzähler wird bewusst, dass er zu den 15000 Touristen gehört, die Jahr für Jahr, nahezu täglich die Insel überschwemmen. Dies hat über die Jahre zu Vermüllung, Verschmutzung sowie zur Erosion der Küsten und Strände beitragen. Die ikonische Plage d’Argent wird von den Einheimischen nur noch »Bakterienstrand« genannt. Der nächste Klick-Moment des Erzählers: „Ich nehme den Menschen hier ein Stück Insel weg.“ Aber da sich das Ich sich noch in Paris selbst in die Verantwortung genommen hat, bereitet es mit der rhetorischen Unterscheidung von Ursachenbenennung und Schuldzuweisung einen solidarischen Vermittlungsweg vor. Verbannung und Verzicht erscheinen ihm auch für die Klimakrise keine probate Lösung. Die Freiheiten, die von den Nachkriegsgenerationen seiner Großeltern und Eltern erkämpft wurden, sind die Freiheiten, auf die keiner mehr verzichten will. Schon gar nicht die Gen Z! Hier dämmert ihm eine weitere wichtige Erkenntnis. „Denn die Erde hat keine Chance gegen die Macht der Freiheit. Ohne Zweifel kann ich Freiheit nicht in der bisherigen Weise ausüben und denken, aber ich kann auch nicht vollständig darauf verzichten.“ Wer denkt dabei nicht voll Wehmut an Reisen durch die Welt, um fremde Menschen und Kulturen nachzudenken? An Vorteile der Digitalisierung?
Das Erzähler-Ich weiß, dass sein Anteil aufgrund seines Alters und seiner Profession noch relativ gering und irrelevant ist. Auf seiner weiteren Exkursion über die Insel erlebt er in Gesprächen mit Einheimischen die vielen Facetten der touristischen Ermächtigung.
Navigationsgesetze des Meeres zur Lösung der Klimakrise
Völlig „landkrank“ von den Ereignissen erlebt der Ich-Held am Ende des Tages seinen entscheidenden Move auf seiner Segeltour zurück zum Festland mit den Freunden. Bei der Hinfahrt auf die Insel hatte er im Kapitel „Ozeane“ resümierte er über das Meer, „in dem der Horizont der Globalisierung geboren wurde, erscheint in den Wellen der Unvereinbarkeit mit den Bedingungen, unter denen das Leben auf der Erde zu gedeihen vermag.“ <41>. Und kommt zu dem Schluss: „Ich reise durch einen durch die Spuren meiner Fahrt umgebildeten Planeten <…>. Unter dem Boot schrumpft die Bewohnbarkeit des Planeten und der Meere.“
Jetzt auf der Rücktour, beim Navigieren des Bootes, erlebt er die Oberfläche des Meeres als einen Lehrmeister für die Demut des Menschen: Er muss sich mit den Gefahren durch Wind, Wogen und Wellen arrangieren, damit weder das Boot ins Straucheln kommt, noch der Mensch über Bord gespült wird. Durch die Kunst des Navigierens glaubt er erkannt zu haben, was in der Klimakrise, in der ebenfalls die Wogen hochschlagen werden, zu tun ist:
„Beim Überleben auf diesem Boot geht es <…> keineswegs darum, eine umgebende ‚Natur‘ zu beherrschen. Wenn wir es schaffen wollen, hier herauszukommen, müssen wir uns auf eine ständige, diskontinuierliche Verhandlung zwischen vielfältigen Kräften einlassen. Die Form des Bootes, die Kommunikation zwischen der <Mannschaft>, Wissen, gemischt mit Neugier, Aufmerksamkeit, Vorsicht und Fantasie, <…> Mit alledem werden wir verhandeln müssen, wenn wir gemeinsam überleben wollen.“
Jetzt könnten wir sagen: Voilá. C’est ça! Was für ein Empowerment! Eine “Nikolayische” Aufforderung zum Handeln! Aber es ist zunächst ein Anstoß: Denn Nikolaj bleibt uns an dieser Stelle eine soziologische Checkliste schuldig, wie wir es angehen können. Oder will er uns animieren zum Selbstdenken? Durchaus denkbar. Vielleicht kommen euch beim Lesen dazu konkrete Ideen. Dann teilt sie mit uns!
Post Scriptum: Fragen einer kritischen Leserin
Das Buch habe ich mit Begeisterung in einem Schwung gelesen. Dank des erfrischenden Rückenwindes, der von ihm ausgeht. Ich denke, dass es hauptsächlich die junge Leserschaft meiner Kinder und Enkel aus der GEN-Z anspricht und bewegt. Sie sind es, die mit Recht klima- und zukunftsbesorgt den Forderungen von FFF weitgehend folgen. Allerdings: Basiskenntnisse über Soziologie und Philosophie sollten sie mitbringen.
- Reicht es definitiv, den Klimawandel allein auf den individuellen Fußabdruck zu reduzieren?
Der geologische Fußabdruck ist viel weitreichender und komplexer gefasst. Er wird dafür kritisiert, dass er als Mittel der Schuldverschiebung auf das Individuum von Marketingstrategen des Energie-Konzert BP und Kooperation mit Ogilvy & Mather entwickelt wurde. Dabei sind bei einem ernsthaft gewollten Klimawandel an erster Stelle Energiekonzerne, die Wirtschaft und die Politik in der Pflicht. - Muss die Wachstums-Ideologie nicht endlich überwunden werden?
Immer noch predigen Börsen, Global Players, Tech-Eliten und die Politik das Wachstumsmantra. Sie sind davon überzeugt, dass nur technischer Fortschritt, KI und Erschließung des Alls die Klimakrise überwinden werden.
- Gehören Klimawandel und sozialen Frage nicht eng zusammen?
Die Journalistin Naomi Klein fordert schon seit Jahren, dass das Wirtschafts- und Wachstumssystem dringend geändert werden muss. Sie fordert Klimagerechtigkeit zwischen den wenigen reichen Eliten. Sind sie doch diejenigen, welche die Hälfte der globalen Emissionen zu verantworten haben. Während die Armen auf dem Globus am stärksten von der Klimakrise bedroht sind.
Was kommt nach der Landkrankheit? Die Landheilung. <…> Man kann “Landkrank” als ein trauriges Buch lesen, aber ich finde es radikal hoffnungsvoll. Dort, in der Dunkelheit, in unserer ganz eigenen Dunkelheit und auch im Schmerz der Welt, dort werden wir ehrlich … Und von dort aus …, kann es nur heller werden. Was für ein Versprechen“
Luisa Neubauer, Vorwort von “Landkrank”
Kurz-Bio Nikolaj Schultz
geboren 1990 in Aarhus (Dänemark) ist Soziologe. Er forscht an der Universität Kopenhagen über die Konsequenzen der Klimakrise für die Sozialtheorie. Er war einer der engsten Mitarbeiter Bruno Latours bis zu dessen Tod in Paris. Gemeinsam publizierten sie u.a. in der edition suhrkamp: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum (2022). Er ist bekannter Keynote-Speaker und Dozent.
Links:
NZZ Feuilleton: Auf der Suche nach einer neuen Ontologie
Republik: Nikolaj Schultz – der Hoffnungsmacher
Nikolaj Schultz im Video
Foto-Credits:
- Nutzung Titelfoto und Foto 3 – mit freundlicher Genehmigung von Lilies n’ Birds
- Porträt Nikolaj Schultz – © Paul Lehr/Suhrkamp Verlag
- Foto 4 – wurstend