Internet und Digitalisierung: Die Macht der Algorithmen über uns
Leben wir in einer Internet-Diktatur der großen Digitalunternehmen und ihrer Algorithmen? Nicht nur die EU-Kommission sieht die Gefahren und will die Handlungsspielräume der großen globalen Internetunternehmen – wie Apple, Amazon, Facebook und Google stark einschränken. Denn sie verfügen über eine größere digitale Macht als jedem Staat lieb sein kann.
Deshalb sollen diese Konzerne sich einer strengeren Aufsicht unterwerfen und auch kleineren Playern ein Recht zum Mitspielen geben. Auch wir Bürger*innen fordern Mitspracherecht. Schließlich zahlen wir im Gegensatz zu den Giganten brav Steuern. Müssen wir es also hinnehmen, wie wir zunehmend falsch informiert, manipuliert, bevormundet oder gar ausgeforscht werden? Inwieweit sind wir im Algorithmen-Dschungel noch autonom? Selber handlungsfähig? Oder werden wir schlichtweg gesteuert – ohne, dass wir es merken sollen?
Zwei unserer Wurstend-Redakteure diskutieren die Gefahren. Zwei unterschiedliche Charaktere. Beide mit dem Ziel, uns Bürger*innen zu mehr digitaler Mündigkeit aufzurütteln. Als roten Faden haben sie sich dafür an den „neuen Grundrechten“ entlanggehangelt, die Ferdinand von Schirach im April 2021 vorgestellt hat.
Anke Fabian:
Unternehmensberaterin, Coach, Dozentin an der Universität Essen-Duisburg
Jörg Linnig:
Energieberater, Bauingenieur von Passivhausprojekten, Dozent
These Anke: Behaltet eure Gedanken- und Handlungshoheit im Blick
Always on. Grenzenlos aktiv. Alles und alle miteinander vernetzt. Wenn alles möglich ist, wird alles Denkbare umsetzbar. Im Guten wie im Schlechten. Was bringt die wirklich weltbewegenden Themen voran? Wenn es darum geht, den Raubbau an der Natur zu stoppen und demnächst zehn Milliarden Menschen ernähren zu müssen? Wer entscheidet darüber, was für wen wann und in welcher Form gut ist? Wer steht für Entwicklungen gerade, wenn es doch „nur Algorithmen“ sind, die alles steuern? Wie funktionieren Kommunikation und Austausch, wenn eine in hässliche Worte gefasste Gefühlsaufwallung in der Nanosekunde des Abschickens auf der anderen Seite etwas kaputtschlägt, was ich gar nicht sehe und spüre?
Wurstend: Die Konzerne jedenfalls haben eine Machtfülle, mit der sie die User*innen steuern können. Was auch von den Entscheidungs-Eliten genutzt wird. Wie werden die Alforithmen genutzt?
These Jörg: Lasst euch von der schönen, neuen Datenwelt nicht entmündigen!
Es ist beängstigend, wie große Unternehmen das politische Ruder an sich reißen und die Gestaltung der Zukunft für uns übernehmen. Wie schön wäre es dagegen, wenn ein globales Telekommunikationsunternehmen wie Cisco aus den USA sich verpflichtete, 1 Milliarde Menschen bis 2025 positiv für die Bekämpfung des Klimawandels einzustimmen. Wer definiert, was unter den Begriffen „positiv“ und „beeinflussen“ verstanden werden soll? Ob positiv oder negativ – wir werden manipuliert. Vielfach können wir nicht mehr selbst entscheiden, wie wir unser Leben gestalten wollen. Die Manipulation reicht bis zum Aussehen. Vor allem die von jungen Menschen und Kindern gehypten Plattformen sind beste (Negativ-)Beispiele. Das Unternehmen Dove, das Pflegeprodukte herstellt, steuert mit seiner Philosophie von “Wahrer Schönheit” mit Models aus dem echten Leben dagegen. Mittlerweile erscheint in den Fotos das Wassserzeichen “Keine digitiale Veränderung”, das in Norwegen bereits für Influencer gesetzlich verpflichtend ist.
So schön die moderne Datenwelt von Cisco, Google, Facebook oder anderen daherkommen mag – sie trägt bei zur Abschaffung unserer Demokratie. Und sie ist eine Vorstufe zum betreuten Leben. Das muss sich jede und jeder bewusst machen.
Absurd: Heinrich Heine-Zitat aktuell digital zensiert
“Der Deutsche gleicht dem Sklaven, der seinem Herrn gehorcht ohne Fessel, ohne Peitsche,
Heinrich Heine, 1797 – 1856 https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Heine
durch das bloße Wort, ja, durch einen Blick.
Die Knechtschaft ist in ihm selbst, in seiner Seele; schlimmer als die materielle Sklaverei ist die spiritualisierte.
Man muss die Deutschen von innen befreien, von außen hilft nichts.“
Anke: Unglaublich. Facebook hat im April 2021 ein Zitat aus der Feder des großen deutschen Dichters und Romantikers mit jüdischem Hintergrund, Heinrich Heine, gelöscht. Armer Heine. Seine Klarheit in punkto Politik wurde schon zu Lebzeiten zensiert. Er musste sich eine neue Heimat im Pariser Exil suchen. Der Inhalt wurde 2021 als rechtspopulistische Hetze aufgefasst. Die Gemüter kochten über. Die Auswüchse der vermeintlich politisch-korrekten Zensur würden immer skurriler argumentierte der österreichische Wochenblick. Entweder lag es an den Algorithmen, die nicht unterscheiden zwischen neuem oder klassischem Zitat. Das wäre verzeihlich, weil sie noch lernen müssen. Oder es lag an der modernen Lust, die Vergangenheit nicht mehr wahrnehmen zu wollen und sie nur noch im subjektiv-aktuellen Verständnis zu verankern. Das wäre unverzeihlich dumm. Ob sich das rechte Spektrum tatsächlich des Heine-Zitates bedient hätte? Die Bild-Zeitung brachte schließlich die “Zensur” Facebooks zutage: Heine bringe in der Textstelle Hass und Herabwürdigung zum Ausdruck. Beides verstoße gegen die geltenden Gemeinschaftsstandards des größten sozialen Netzwerks.
Wurstend: Als User*innen werden wir über die Wertestandards und Einsortierungskriterien von Veröffentlichungen oder Meinungen im Dunkeln gelassen. So bleibt unklar, was als Fake, Urheberrechtsverletzung, Rassimus oder Diskriminierung eingestuft wird.
Anke: Wer entscheidet eigentlich darüber, welche Art des Umgangs, welche Sprachführung und Inhalte veröffentlicht werden oder nicht?
Jörg: Dazu frage ich mich auch, warum es sich die großen digitalen Player nicht zur Aufgabe machen, uns Menschen auf dem Weg zu mehr Kreativität, Eigenentwicklung und Selbstverantwortung zu unterstützen? Ich habe das Gefühl, heute geht es nicht mehr primär um den Menschen, sondern um Selbstoptimierung für mehr Geld, Macht und Einflussnahme. Über Jahrzehnte hat man uns eingetrichtert, dass wir unseren persönlichen Selbstwert nur über Leistung definieren und harter Wettbewerb dazu dient, damit unsere Welt freiheitlich funktioniert und wir wirtschaftlich erfolgreich sind
Anke: Hier setzt Rafael Capurro an. Er ist einer der wichtigsten und weltweit angesehenen Forscher zur Ethik des Menschen im Digitalzeitalter. 2009 prägte er den Begriff der „digitalen Ethik“. Der mittlerweile emeritierte Professor und Philosoph an der Hochschule Stuttgart sagt dazu:
“Digitale Ethik oder Informationsethik im weiteren Sinne befasst sich mit den Auswirkungen digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) auf unsere Gesellschaften und die Umwelt insgesamt. Im engeren Sinne befasst sich die Informationsethik (bzw. digitale Medienethik) beschäftigt sich mit den ethischen Fragen des Internets, den Internet basierten Informationen sowie den Kommunikationsmeden, wie Mobiltelefonen und Navigationsdiensten. Themen wie die der Privatsphäre, Infomationsüberflutung, Internetsucht, digitalerSpaltung wie Überwachung und KI werden heute vor allem aus einer interkulturellen Perspektive heraus diskutiert.” Rafael Capurro, Schriften
Algorithmen: Übernahme des Rechts durch die Digitalgiganten
Jörg: Ich befürchte, dass durch diese riesigen Digitalunternehmen eine Art globalisierter Diktaturen entstehen. Und dass wir immer stärker in Meinungsblasen geclustert und entmündigt werden. Wenn Facebook oder Twitter entscheiden, dass die Konten von Donald Trump bis auf Weiteres gesperrt bleiben, weil der sich nicht Gesetzes konform verhalten hat, freut man sich klammheimlich, dass diesem chaotischen Demagogen der Mund verboten wird. Auf den zweiten Gedanken bekommt das einen faden Beigeschmack. Öffnet es Tür und Tor für unliebsame Meinungen. Siehe das Heine-Zitat. Wird hier nicht unser Rechtsstaat auf den Kopf gestellt?
Wenn internationalen Unternehmen ermöglicht wird, unsere Gerichte zu ersetzen und die es auch tun, ist dies der Anfang vom Ende eines Rechtsstaates. Die Gewaltenteilung ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Verfassung und Demokratie. Diese gilt es zu wahren und zu verteidigen. Wie müssen wir mit so machtvollen digitalen Playern umgehen? Müssten sie nicht ab einer bestimmten Umsatzgröße oder Machtkonzentration einer staatlichen Kontrolle durch gewählte Volksvertreter unterstellt werden? Können wir hinnehmen, dass unsere Zukunft von einigen wenigen Manager*innen bestimmt wird, die durch keine Wahl dazu legitimiert wurden? Oder wie es der Digitalexperte Kevin Gross es in einem Beitrag für das Pew Research Center treffend ausgedrückt hat: “Technologie kann die Demokratie verbessern oder untergraben, je nachdem, wie sie genutzt wird und wer sie kontrolliert. Im Moment wird es von zu wenigen kontrolliert.”
Wurstend: Im digitalen Zeitalter sind wir sogar bereit, die Errungenschaften der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bezüglich der Mündigkeit des Menschen, klaglos aufzugeben. Damit geht einher, dass wir ausgerechnet in Deutschland im „Land der Dichter und Denker“ dieses hohe Gut zugunsten der Steuerung durch Algorithmen gerade über Bord werfen. Ein Land, aus dem im 18. Jahrhundert aus Philosophie und Wissenschaften entscheidende Impulse zur Befreiung des Menschen am Wendepunkt zwischen Ancien Régime und Moderne ausgingen. Der Philosoph und Denker Immanuel Kant aus Königsberg gilt als einer der wichtigsten Vordenker der Aufklärung. In seinen Schriften rief er dazu auf, sich von jeglichen Anleitungen (wie Gott) zu lösen und Verantwortung für sein eigenes Handeln selbst zu übernehmen. 1784 antwortet er auf die Frage: Was ist Aufklärung?
“Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Wurstend Ausblick
In der vor-digitalen Zeit nach dem zweiten Weltkrieg haben wir die rechtliche Grundlagen geschaffen, nach welchen gesellschaftlichen und ethischen Regeln wir leben. Jetzt unterhöhlen die globalen Digitalgiganten mit ihren eigenen Spiel- und Machtregeln (Algorithmen) bereits unsere Demokratien. Über die gesetzlichen Regelungen hinaus, wie Steuern oder Veröffentlichung der Algorithmen, die von der Politik ausgehen müssen, sind wir User*innen gefragt, unseren eigenen Verstand ein- und den Computer auszuschalten. Selbstdenken ist ein Muss im digitalen Zeitalter. Hier sind auch die Schulen in der Pflicht.
Anleitungen dazu:
Nick Couldry, Medien- und Kultur-Soziologe, über Datenkolonialismus – Die Aushöhlung der digitalen Gesellschaft
Wie die Gesellschaft ihre Werte mit den Möglichkeiten der Digitalisierung abgleicht, Hochschule für Wirtschaft Zürich, 2019, Whitepaper
Weiterführende Links:
https://en.wikipedia.org/wiki/Cambridge_Analytica
https://www.pwc.de/en/consulting/digital-ethics.html
http://www.capurro.de/korea.html
https://www.dw.com/en/demagogues-digitalization-and-the-threat-to-democracy/a-56524810
https://www.theguardian.com/commentisfree/2012/dec/23/internet-will-oligarchs-control-it
https://slate.com/technology/2016/11/countries-do-not-control-the-internet-companies-do.html
https://news.microsoft.com/en-cee/2021/01/12/securing-democracy-in-the-digital-age/
https://fsi.stanford.edu/publication/making-internet-safe-democracy
https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-11-24/fukuyama-how-save-democracy-technology
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/23738871.2018.1462395
https://static1.squarespace.com/static/57fb220646c3c42b615b76ee/t/58451909893fc0f82bea89bf/1480923443872/Google%2C+democracy+and+the+truth+about+internet+search+_+Technology+_+The+Guardian.pdf
https://royalsocietypublishing.org/doi/full/10.1098/rsta.2018.0089
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-zielgruppe-ist-tot-es-lebe-der-lebensstil/
https://www.youtube.com/watch?v=QuEO-iTf4C4&t=1674s
Bildnachweise
Visuals zu den Neuen Grundrechten von Ferdinand von Schirach: “Jeder Mensch” haben wir erstellt, als wir auf der wurstend Facebookseite die Kampagne unterstützt haben
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