Wenn der Mensch zur Plage wird
Beitrag unseres Gastautors:
Gregor Nottebom, Veganer und Philosoph, Bochum
Harald Lesch, der bekannte Physiker und Philosoph, erzählt in seinem Buch “Die Menschheit schafft sich ab” einen beliebten Physikerwitz, der den Menschen als Virus identifiziert:
Treffen sich zwei Planeten. Der Eine sagt: “Oh, du siehst aber schlecht aus.” Der Andere: “Ich habe Menschen!” Sagt der erste wiederum: “Das geht schon vorbei.”
Harald Lesch und Harald Kamphausen, “Die Menschheit schafft sich ab”. Die Erde im Griff des Anthropozän, Knaur, 2016
Auf den ersten Blick erscheint dieser Dialog zwischen den zwei Planeten witzig. Aber eigentlich sollte uns das Lachen im Halse stecken bleiben. Wir Menschen sind ja genau die Spezies, welche sich auf dem Planeten vermehrt, – und es wird langsam eng – an Platz, Nahrungsmitteln, Ressourcen. Was können wir überhaupt tun? Was würde ein Planeten-Facharzt raten? Vielleicht erstmal einen Abstrich machen, ins Labor schicken und nach den Wurzeln der Infektion suchen? In unserem Kulturkreis schlagen wir doch einfach erst mal die Bibel auf:
“Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.”
Erstes Buch Mose, Genesis 1,1-2,25
Der Mensch selbst als Plage, die alles verdrängt?
Während die explosionsartige Vermehrung tierischer Arten gemeinhin als Plage bewertet wird, gelten für die Verbreitung des Menschen offenbar andere Maßstäbe! Wer sich vermehrt, wird gefeiert, als ob er/sie eine Heldentat vollbracht hätte. Tatsächlich aber unterscheiden wir uns bezüglich der Fortpflanzung und Expansion unserer Art in keinerlei Hinsicht von den Tieren, auf deren Verbreitung wir, sofern sie uns nicht nutzt, verächtlich herabblicken.
So genießen Menschen, die eine Familie gründen, besonders in unserem Kulturkreis eine größere gesellschaftliche Akzeptanz als diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – freiwillig oder gezwungenermaßen auf Vermehrung verzichten. Bei näherer Betrachtung folgen aber auch wir einem biologischem Programm, das ausschließlich der Sicherung der eigenen Gene und Spezies dient.
Die sogenannte Nächstenliebe wird umso schwächer, je weiter wir vor allem genetisch, aber auch soziokulturell, gesellschaftlich, religiös oder ethnisch voneinander entfernt sind. Nicht nur die Wissenschaft, auch unsere Erfahrung zeigt auf, dass wir umso eher bereit sind, persönliche Opfer zu bringen, je näher uns ein Mensch oder eine Gruppe steht. Blut ist dicker als Wasser, heißt es. In der Tat steigt mit der prozentualen genetischen oder sozialen Übereinstimmung die Wahrscheinlichkeit, Verzicht zu üben, Opfer zu bringen oder im Ernstfall sogar das eigene Leben in die Waagschale zu werfen.
Abschottung – die bessere Strategie oder das Problem?
In Krisenzeiten, wenn es hart auf hart kommt, verstärkt sich die Abschottung. Der Mensch ist zwar ein soziales Wesen, aber in unserem Sozialverhalten folgen wir einem egoistischen, letztlich selbstzerstörerischen Programm. Erweitern wir den Begriff ‘Familie’ auf größere Gruppen – wie Länder, Staaten, Religionsgemeinschaften – wird offenkundig, dass die meisten Formen menschlichen Zusammenhaltens nicht vernünftig oder gar ethisch, sondern ausgrenzend und interessengesteuert motiviert sind.
Aktuell zeigt sich das besonders deutlich am Beispiel der Schutzmaßnahmen gegen das Corona-Virus. Obwohl die Ursachen wie die globalen Auswirkungen der Pandemie jedermann bekannt sind, obwohl wir alle wissen, dass dieses Problem nur global gelöst werden kann, verharrt jeder der Weltgemeinschaft in seinen partikularen Interessen. Von den Hilfsmaßnahmen profitieren zuallererst und ausschließlich diejenigen, die zur eigenen Gemeinschaft gehören und diejenigen, die es sich “leisten” können. Die anderen bleiben außen vor.
Hauptsache, die eigene Brut, die eigene Gemeinschaft, das eigene Land ist versorgt. Ansonsten gilt: Nach uns die Sintflut. Nur das Problem ist, dass diese Sintflut tatsächlich kommen und letztlich auch uns erreichen wird. Wenn es uns nicht gelingt, endlich unseren eigenen Egoismus über Bord zu werfen. Dazu müssen wir auf der einen Seite unseren Konsum und auf der anderen Seite zudem unsere Vermehrung begrenzen. Die Gründe für die plagenhafte Ausbreitung unserer Art sind, je nach Nation und Kontinent, nur scheinbar verschiedener Natur.
Während in den von westlichen Industrienationen ausgebeuteten afrikanischen Ländern, durch unsere Schuld viele Kinder die einzige Möglichkeit der existentiellen Absicherung sind, stehen in unseren Kulturkreisen andere Motive im Vordergrund: Selbstverwirklichung, soziale Anerkennung oder narzisstische Spiegelung des eigenen Ich. Dazu passt, dass Narzissten als Anführer von Industrienationen aktuell Konjunktur haben. ‘Amerika first’ oder ‘meine Familie zuerst’ – ethisch betrachtet macht das letztlich keinen Unterschied!
Globale Gemeinschaft der Menschen?
Unabhängig aber davon, wie wir unsere menschlichen Motive uns zu vermehren analysieren oder im Einzelfall bewerten, gilt: Wir müssen lernen, uns jenseits aller Unterschiede und Differenzen als globale Gemeinschaft zu begreifen. Dazu gehört vor allem die Erkenntnis, dass es zum einen zu viele Menschen, zum anderen zu viele privilegierte Minderheiten und Nationen gibt, die als Einzelne zu viel verbrauchen! Die Lösung des Problems liegt sicher nicht im chinesischen Modell staatlich verordneter Geburtenkontrolle. Zuallererst müssen alle vorhanden Güter gerecht verteilt werden. Die Partizipation an Wasser, Nahrung und Luft ist kein nationales und nicht einmal ein Nur-Menschenrecht. Sie ist das Recht, – wollen wir alle auf diesem Planeten überleben – das allen Lebewesen zusteht. Genau genommen fehlt uns für die geistige Evolution der Welt dringend die Proklamation der Rechte aller fühlenden Lebewesen. Nach Abschaffung der Sklaverei, der Proklamation der Menschenrechte muss das 70 Jahre danach eigentlich der plausible und notwendige Schritt sein. Denn unser wunderschöner Planet gehört allen, die sich darauf befinden, egal, ob Pflanze, Tier oder Mensch; egal, welchen Glaubens.
Die Bishnoi
Genaugenommen ist dieser Gedanke gar nicht neu. Er ist beispielsweise konstitutiv für eine Religionsgemeinschaft, die im 15. Jahrhundert gerade durch die Auseinandersetzung zweier Wertegemeinschaften, der Hindus und der Moslems, in Indien hervorgegangen ist. Die Rede ist von den Bishnoi, die durch ihre 29 Gebote, zu denen auch das Verbot des Fleischverzehrs gehört, sich in der kargen Wüste erfolgreich und in Einklang mit der Natur behaupten konnten.
Angesichts immer knapper werdender Ressourcen ist das ein sehr aktuelles Konzept, was jetzt immer stärker im Aufwind ist. Wir können unsere Welt nur dadurch bewahren, dass wir uns als Teil und weder als Herrscher der Schöpfung noch als Herrscher über seine Mitmenschen begreifen. Weder endloses Wirtschaftswachstum, noch damit verbundene endlose Vermehrung dürfen Selbstzweck sein – auch wenn jemand meint, es stünde so in der Bibel.
Dominum Terrae
Ironischerweise ist gerade die Interpretation des “die Erde zum Untertan machen (= Dominum Terrae)” eine Entwicklung der Neuzeit. René Descartes, Philosoph und Wegbereiter der französischen Aufklärung, beschreibt 1637 in seinem “Discours de la méthode” den Menschen als “Herrscher und Besitzer der Natur”. Das passt natürlich gut zum damals herrschenden mechanistischen Weltbild, das uns heute noch ökologisch schwer im Magen liegt. Die aktuelle hebräische Exegese geht an die Ursprünge zurück. Die biblischen Worte die hier verwendet wurden “kabasch” und “radah” werden als “urbar machen”, “kultivieren” und “fürsorgen” interpretiert.
Weiterführendes zum umstrittenen Begriff “Dominum Terrae” findet Ihr über diesen Link.
Liebe Leserin und lieber Leser – denkt über unseren Text nach. Wie wär’s, wenn wir die Bishnoi neu entdecken? Oder welche Ideen bewegen Euch, den Planeten für die Menschen gerechter zu gestalten?
Sind wir Menschen der Virus mit dem großen Zerstörungspotenzial für den Planeten, wie es in dem Physiker-Witz angedeutet wird?
Unser Magazin lebt von Mit-Denkern!
Schreib uns was! – Was denkst Du darüber?
ute steinert
28/06/2021 @ 02:42
Sehr gute und wahre Gedanken. Als Christin sehe ich es so: Gott hat uns diese Erde anvertraut. Wir haben die Aufgabe bekommen uns wie ein guter, fürsorglicher Gärtner um ALLE Bewohner der Erde zu kümmern. Dies ist eine wahrlich große und sehr verantwortungsvolle Aufgabe. ALLE haben das Recht zu leben, denn wir ALLE sind Geschöpfe Gottes. Diese große Aufgabe können wir nur gemeinsam meistern. Die Menschheit hat leider auf ganzer Linie das Ziel verfehlt. Zielverfehlung = Sünde. Jetzt ernten wir was wir gesät haben. Man könnte auch sagen: Wir müssen die Suppe auslöffeln die wir uns selber eingebrockt haben…
Daniel
29/06/2021 @ 11:06
Hast Du recht, aber glücklicherweise ist der Mensch ja lernfähig, mal sehn, was er draus macht. Und halt typisch für die Spezies Mensch, dass sie erst unter Schmerzen lernwillig wird.
Ottmar Welker
01/09/2021 @ 03:32
Da ist mir Cees lieber!
https://www.suhrkamp.de/buch/cees-nooteboom-abschied-t-9783518225226 Abschied: Gedicht aus der Zeit des Virus. Buch (Bibliothek Suhrkamp) von Cees Nooteboom auf suhrkamp.de