Cradle-to-Cradle – die grüne Null beim Müll
Foto: UB | Zero Waste auf dem Titel des Spiegel Nr. 8 vom 20. Februar 2021
Die Titelgeschichte des Spiegel Nr.8 vom 20. Februar 2021 (https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2021-8.html ) hatte das Thema Müll und wie man ihn vermeiden kann zum Thema – Zero Waste. „100 Prozent Natur“ hieß die Titelzeile. Dazu eine Grafik mit dem Foto eines Coffee-to-go-Bechers, der in der Verkleidung eines Baumstammes daherkommt. Er ist mit einem grasgrünen Deckel verschlossen, aus dem eine Pflanze sprießt. Alles wunderbar Grün in der Farbe der Hoffnung. Die Unterzeile zeigt den aktuellen Bezug: Deutschland versinkt in den aktuellen Corona-Zeiten im Müll. Die Lösung ist das „Zero Waste“-Versprechen. Ein spannendes Thema – nicht nur für #wurstend. Für uns ein Grund näher hinzuschauen.
Megathema Zero Waste
Vorneweg: die achtseitige Titelgeschichte bleibt meist an der Oberfläche. Dennoch können wir einiges über den bisher nur wenigen geläufigen Trend des „Zero Waste“ lernen. Diese “Grüne Null” bei der Müllverwertung ist in der breiteren Öffentlichkeit noch nicht so bekannt. Der Artikel erklärt: „Zero Waste schickt sich an, zum Megathema in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu avancieren.“ Dennoch stellen die Autoren den Anspruch auf ein abfallneutrales Deutschlands gleich wieder als in Frage. Denn auch wenn wir Deutschen einen Ruf als die Champions der Mülltrenner*innen der Welt haben, klappt es nicht so recht. Schon deshalb, weil die Hälfte des Abfalls “Fehlwürfe” in die falsche Tonne sind. Ob aus Nachlässigkeit oder aus Unwissen – das können die Statistiker nicht klären.
Exponentielles Wachstum der Müllberge
Fast-Food-Boxen, Versand-Kartons, To-go-Becher und jetzt neu auch Corona Schutzequipment landen im Müll – siehe dazu auch unseren Artikel “Das Ende der Esskultur“. Ohne konkrete Zahlen zu nennen (wahrscheinlich gibt es sie noch gar nicht), behauptet der Spiegel, in der Pandemie wüchsen die Müllberge in Rekordhöhe. Als Beweis gelten die vielen überquellenden Sammelcontainer, die uns in den Städten die Bürgersteige flankieren.
Die Deutschen trennten zwar sorgfältig ihren Müll, doch würden weiter Rohstoffe verschwendet. Gerade Kunststoff-Müll lande immer noch größtenteils in der Verbrennung, statt im Recycling. Das Ergebnis ist schon etwas niederschmetternd.
Sind wir doch überzeugt, vieles in Sachen Müll richtig zu machen, ist die Wegwerfgesellschaft keineswegs überwunden. Das hängt aber auch mit unserem hauptsächlich linearen Wirtschaftssystem zusammen. Es funktioniert immer noch im Dreiklang aus Produktion, Verbrauch und Abfall. „Wo Neues produziert wird, entsteht der Dreck von morgen.“ stellt der Spiegel fest. Aber muss das so sein? Müssen wir uns damit zufriedengeben? Schließlich gibt es schon einige Lösungen, die aufhorchen lassen.
Cradle-to-Cradle – die Revolution im Wirtschaftskreislauf
Natürlich und Gott sei Dank kommt die Titelgeschichte schnell auf das Prinzip der Kreislaufwirtschaft zu sprechen. Insider sprechen von Cradle-to-Cradle (https://is.gd/Kcp2B4) oder kürzen es ab als C2C ab. Englisch ausgesprochen (ci-tu-ci) meint es “von der Wiege zu Wiege”. So handelt die herkömmliche Wirtschaft immer noch von der Wiege zur Bahre, also Cradle to Grave. Sehr traurig.
Ein wichtiger Impulsgeber für dieses positivere Wirtschaftssystem ist Michael Braungart aus dem Schwabenland. Er ist ein deutscher Verfahrenstechniker und Chemiker. Zusammen mit dem US-amerikanischen Architekten William McDonough hat er das Design-Konzept einer faszinierenden Kreislaufwirtschaft entwickelt.
Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam. An Leuphana Universität Lüneburg hat er einen Lehrstuhl für Eco-Design. Dazu ist er Geschäftsführer der Environmental Protection Encouragement Agency und der Internationalen Umweltforschung GmbH in Hamburg (EPEA). Zu guter letzt ist er wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts.
Er ist überzeugt von seiner Vision: „Die Denkweise der Zukunft besteht nicht in der Minimierung des ökologischen Fußabdrucks.“ Denn Verzicht und Askese sind unsexy. Der Großteil der Bevölkerung reagiere darauf eher mit Abwehr. Auf seiner Website http://braungart.epea-hamburg.org/de/content/c2c-design-konzept ) bringt er seine Idee auf den Punkt.
„Ich möchte Produkte und Produktionsprozesse so entwickeln, dass Verschwendung kein Problem mehr ist. Sie sollen komplett unschädlich sein für Mensch und Natur. Mehr noch: Der Mensch soll mit dem was er tut nützlich sein für andere Stoffkreisläufe. Seine Produkte sollen in Stoffkreisläufen funktionieren, so dass es keinen unnützen Abfall, sondern nur noch nützliche Rohstoffe gibt. Dass das funktionieren kann, zeigen mehrere hundert Produkte auf der Welt, die nach diesem Prinzip entwickelt worden sind.“
(zitiert nach Berliner Zeitung vom 26.06.2004)
Der Cradle-to-Cradle Pionier Braungart überzeugt, nein, begeistert die größten Teile seines Publikums. Natürlich gibt es auch genügend Kritiker, die seine Ideen in Frage stellen. Wer allerdings zu seinen Vorträgen kommt und er eloquent von seiner „Kirschbaumtheorie“ berichtet, kommt in ein positives Grübeln.
Am Bild Kirschbaums macht Braungart seine Lehre eindrücklich fest. Vor allem zeigt er daran wie wir von der Effizienz getriebenen Wachstumsorientierung zu einer – man höre und staune – effektiven “Ökologie der Verschwendung” gelangen können. Wie das? Das muss er uns aber genau erklären.
C2C verwandelt den Menschen vom Schädling zum Nützling
Die Berliner Zeitung schrieb schon 2004 – nicht ohne Faszination über ihn: „Dieser Mann wirkt wie ein Elixier gegen den Weltschmerz. Sobald der Name Braungart fällt, beginnen Kummer gewohnte Manager multinationaler Konzerne hemmungslos zu schwärmen.“ Und in der Tat, wer ihn wie ich in seinen Vorträgen live erlebt hat, kann sich seinen Ausführungen nicht so leicht entziehen. Im Gegenteil, mensch spürt bei seinen Worten förmlich, wie ein Frühlingserwachen durch’s Auditorium weht, wenn er von der Natur als dem großen Vorbild spricht: „Die Natur produziert seit Jahrmillionen völlig ineffizient, aber effektiv.
Ein Kirschbaum bringt Tausende von Blüten und Früchten hervor, ohne die Umwelt zu belasten. Im Gegenteil: sobald sie zu Boden fallen, werden sie zu Nährstoffen für Tiere, Pflanzen und Boden in der Umgebung.” Und: Öko-Effizienz bedeutet, giftige Substanzen sparsam zu verwenden und am Ende zu deponieren. Öko-Effektivität bedeutet, mit ungiftigen Substanzen verschwenderisch umzugehen und sie in Kreisläufen zirkulieren zu lassen. Ebenso, wie es die Natur uns vormacht.“
C2C – zwei Kreisläufe – ein Ziel
Praktisch schlägt Braungart zwei getrennte Kreislaufsysteme vor: den biologischen Kreislauf und den technischen Kreislauf. Im biologischen Kreislauf zirkulieren die natürlich abbaubaren Substanzen – Materialien, die im weitesten Sinne essbar sind. Dazu zählt Braungart neben den Lebensmitteln die Verpackungen, die wir dann bedenkenlos in die Landschaft werfen könnten. Wenn sie verrotten, können sie der Natur als Nahrung dienen.
Als sehr gutes Beispiel gilt die relativ kleine, aber mehrfach als C2C-Region prämierte Enklave von Venlo. Die niederländische Einkaufsstadt nahe der deutschen Grenze, in niederrheinischen Euregio (https://c2cvenlo.nl/de/homepage/ ) hat sich seit 2012 für eine C2C-Wirtschaft verpflichtet. Die Kommune, Wirtschaftsverbände wie auch die Unternehmen ziehen dabei an einem Strang. Neuansiedlungen – wie auch Neubauten müssen sich zu den C2C-Richtlinien verpflichten.
Die Hochschule Niederrhein ist sogar auch C2C-Partner und zieht dort neue umweltbewusste Studierende heran. Vom Kindergarten über Schulen, Ausbildungsinstitutionen sollen die C2C-Kriterien zum verbindlichen Curriculum gehören. Auf dass sich eine entsprechende C2C-Mentalität etablieren kann.
Zunächst ist die Region noch einen leicht abweichenden “Venlo-Weg von C2C” gegangen, weil noch in vielen Bereichen die Grundstoffe und Ressourcen erst entwickelt werden müssen. Eine Tatsache, die der gestrenge C2C-Professor nicht immer akzeptabel fand. “Aber man muss erst mal anfangen,” hieß es in Venlo, “um C2C weiter zu entwickeln und nach und nach Baustoffe und andere Produkte auszutauschen. ” Es lohnt sich ein Besuch in Venlo sowie Gespräche mit den Verantwortlichen dort.
Der C2C-Spirit ist ungebrochen und alle arbeiten emsig dran, die Ziele von Null Abfall im Sinne des Kirschbaumes als erste zu erreichen. Immerhin konnten die Stadtobersten schon zwei Mal in Folge in New York ihre Auszeichnung als “C2C-Region der Welt” in Empfang nehmen.
In Berlin ist bereits die junge C2C-Generation am Start
Heute entwickelt Nora Sophie Griefahn die Idee im C2C-Lab Berlin https://c2c.ngo weiter . Sie arbeitet dort zusammen mit ihrem Geschäftsführungs-Kompagnon, dem Wirtschaftswissenschaftler und Vorstands Tim Janßen. Sie ist Tochter von Michael Braungart und seiner ebenso prominenten Frau Monika Griefahn (https://de.wikipedia.org/wiki/Monika_Griefahn ). Die SPD-Politikerin und ehemalige niedersächsische Umweltministerin ist auch bekannt als Mitgründerin von Greenpeace Deutschland.
Anders als ihre Eltern will das Team Griefahn-Janßen heute unsere Welt „ohne den Greenpeace-Zeigefinger“ positiv verändern. Dazu wagen sie auch optimistisch den Schulterschluss mit Unternehmen, die dieser Wirtschaftsidee folgen. Immer mehr Leuchtturmprojekte beweisen, dass sie mit diesen Allianzen erfolgreich sind. C2C funktioniert. Tendenz steigend. Die Zeit ist reif.
Das Circular Valley ist in Wuppertal
Technologisch ist zumindest die müllfreie Kreislaufwirtschaft schon weiter, als es die Praxis vermuten lässt. Bisher ist es nur eine kleine Nische. Interessant ist der Hinweis auf die Stadt Wuppertal. Der neue Oberbürgermeister Uwe Schneidewind (https://www.wuppertal.de/microsite/Oberbuergermeister/DerOberbuergermeister.php) von den Grünen. Vorher war er Professor am Wuppertal Institut (https://wupperinst.org ). Er will aus der bergischen Industriestadt ein „Circular Valley“ (https://wuppertalbewegung.de/das-neue-projekt-circular-valley-wuppertal/ ), zu einer Stadt der Zukunft, machen. Seine Vision und Wunsch: Wuppertal die erste Stadt Deutschlands ohne Müll – mit grüner Null! Dazu fordert er einen Perspektivenwechsel, um Ressourcen wirksam zu schonen.
Schluss mit der Wachstumsparty
Ein weiterer Vordenker in Sachen Zero Waste, den mensch auf dem Schirm haben sollte, ist der Siegener Ökonom Niko Paech (http://www.postwachstumsoekonomie.de ). Er fordert das Ende der Wachstumsparty zugunsten einer Postwachstums-Ökonomie. Denn unser Wirtschaftswachstum zu viele verursache ökologische Schäden. Konsum sei nie ökoneutral. Mit seinem Begriff der Suffizienz meint er einen genügsameren Lebensstil.
Ob das von der Mehrheitsgesellschaft aufgenommen wird oder nur eine schöne Talkshow-Argumentation bleibt? Der Spiegel führt in seiner Titelgeschichte als Vorbild die Baumaschinen-Sparte von Volvo an. Ihre Managerin Nele van Campfort wird mit ihrer Empfehlung zitiert, nicht mehr, sondern weniger Maschinen zu verkaufen. Statt Baumaschinen zu kaufen, sollten sie entliehen oder geleast werden. Eine gute Idee, die auch bei C2C angewendet wird.
Das Prinzip, Produkte in eine Dienstleistung zu verwandeln, gelingt allerdings nicht überall. Der Schutz der Ressourcen gestaltet sich, so erfahren wir auf der letzten Seite des Artikels, schwieriger als der Kampf gegen den Klimawandel und das Verringern von CO2-Emissionen.
Liebevoll wird die Geschichte des italienischen Unternehmers Giulio Bonazzi (https://www.c2c-congress.org/bonazzi_giulio ) erzählt, der aus alten Nylon-Textilien neue Garne upcycelt. Solche Geschäftsideen sind wunderbar.
Am Ende landen wir aber wieder im Mainstream: Die Investitionen in solche Innovationen soll Finanzinvestoren auf dem Kapitalmarkt anlocken.
Zero Interesse trotz medialen Rauschens
Umweltthemen sind beim Spiegel beliebt. In Hunderten von Titelgeschichten, Serien und Reports hat das Magazin schon immer auf Umweltgefahren hingewiesen. 1981 entdeckte es das Waldsterben als Thema. 1995, zum Weltklima-Gipfel in Berlin und zum 25. Geburtstag der deutschen Umweltbewegung, erschien in „Spiegel Special“ eine Öko-Bilanz.
Schon damals, heute vor 25 Jahren, beklagte dort der SPD-Politiker Erhard Eppler eine 20-jährige Nicht-Politik in Sachen Ökologie.
Und mit Wehmut denkt man an den TV-Journalisten Horst Stern. Er produzierte aufklärerischen Sendungen oder sogar seine Zeitschrift „Natur“. 1984 zog er sich desillusioniert aus dem TV zurück: „Ich wusste, dass ich mit diesem Medium die Welt nicht würde verändern können“, zitiert ihn der Spiegel. Schade. Das Thema ist mittlerweile drängender denn je.
Der lange Atem für den Klimawandel
Reiht sich also „100 Prozent Natur“ in die Vielzahl von Artikeln ein, die zwar mit Interesse gelesen werden, aber im Grunde nichts bewirken? Ich glaube nicht. Vielleicht dauern die Prozesse länger als es die Geduld vieler Autoren zulässt. 1980 wurden die Grünen gegründet. Damals hätte sich niemand vorstellen können, dass diese Öko-Oppositionspartei eines Tages als regierungsfähig angesehen wird. Und aus dem Schulstreik einer schwedischen Schülerin ist sehr schnell eine weltweite Protestbewegung geworden. In den Köpfen der Menschen ist das Thema Klima angekommen. Auch wir von #wurstend wollen mithelfen, ein Bewusstsein für die Klimakrise zu schaffen. Umso schönfer wäre es, gemeinsam mit der Community Lösungsansätze aufzuzeigen. Und dann auch noch umzusetzen. Damit es nicht zum “worst end” kommt.
Links:
Video Prof. Dr. Michael Braungart im Interview zu C2C
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/cradle-to-cradle-postwachstum-und-die-effektivitaet-von-kirschbaeumen-interview/
Porträt Michael Braungart
htps://www.berliner-zeitung.de/michael-braungart-ist-ein-oeko-visionaer-seine-ideen-stellen-alles-auf-den-kopf-was-wir-unter-umweltschutz-verstehen-die-klugheit-des-kirschbaums-li.7076
Cradle-to-Cradle-Produkte
https://c2c-ev.de/category/produkte/
Shops, wo ihr Cradle-to-Cradle-Produkte findet:
https://utopia.de/ratgeber/cradle-to-cradle-produkte-shops/
Ghita
06/03/2021 @ 09:17
Sehr schöner Artikel!